Derealisation oder Schneller inkompatibel werden

Dieser Text entsteht im Mai 2024. Die Ausgangsfrage ist einfach, eigentlich: Wie geht’s denn so, JETZT, als Aktivistin in Hannover, zuletzt in der Leinemasch, in der gerodet wurde. Aber nichts ist einfach, nichts ist einfach zu vermitteln.

Aber es gibt einen Start:

Es ist der 6. Mai 2024. Ich bin vormittags mit einem Menschen in der Leinemasch verabredet. Wir haben hier, wie so viele andere, ungesund viel Energie und Zeit im Kampf gegen das irre Weiter-so gelassen. Im Januar wurde trotzdem für die Verbreiterung des Südschnellwegs gerodet, gerade entsteht eine Baueinrichtungsfläche. Arbeiter*innen kampfmittelsondieren den für Tümpeltown namensgebenden Teich und pumpen ihn offenbar leer.

Tümpeltown war das ikonische Baumhausdorf zwischen Tümpel und Südschnellweg, in dem im Januar Dutzende Aktivisti ausgeharrt, die Rodung drei Tage lang hinausgezögert und ein fettes Ausrufezeichen hinter den Protest von Leinemasch BLEIBT gesetzt haben. Tümpeltown, der queerfeministische, utopische Erfahrungs- und Begegnungsort für so viele Menschen, ist im Wortsinn vom Erdboden verschwunden.

Wir sitzen im Baueinrichtungs-Naherholungsgebiet. Es blüht, es riecht nach Frühling. Der Mensch sagt einen Satz: Wir sind inkompatibel. Er meint nicht uns, sondern uns in der Welt.

Zu Hause, anschließend, kämpft mein Kind mit der Entscheidung, nach dem Sommer eigene Wege zu gehen oder die Oberstufe „durchzuziehen“, weil sich dann nach drei Jahren alle Zukunftsoptionen vor den Abiturient*innen erstrecken. Letzteres: ein mächtiges, ungebrochenes Schulnarrativ. Das Narrativ einer Welt, in der trotz allem alles irgendwie so weitergeht.

Später auf dem Weg zur Stadtbahn fühlt sich alles eine Spur verrutscht an. Als wäre die vertraute Straße heute Kulisse, irgendwie anders beleuchtet, alle Bewegungen etwas verlangsamt, entkoppelt. Das ist nicht schlimm oder übermäßig beängstigend. Die Welt zerfällt einfach in Kulisse und mich.

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Derealisation: […] ein Gefühl von Unwirklichkeit.
(nach ICD-10: F48.1)

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Es gibt dafür sogar einen Fachbegriff: „Derealisation“1. Was für ein Wort. Jenseits von Diagnosekatalogen transportiert es ein Grundgefühl: diesen Zustand, wie festgefroren einfach dazustehen und zu beobachten, wie das, was wir2 the world as we know it, was wir „Zivilisation“ oder „Zukunft“ nennen, in Zeitlupe von der Weiche springt, während wir auf eine Sommermärchen-EM hoffen, während Billie Eilish´s neues Album ungeduldig erwartet wird und während um Notendurchschnitte gerungen wird.

Dieses Gefühl war noch nie so überwältigend wie jetzt – aber wirklich neu ist es nicht. In meiner Erinnerung sind da diese Bilder aus Großbritannien, die ab Ende der 1980er Jahre die „mad cow disease“ (BSE) in die Tagesschau spülte, verrenkte Kühe wie von Sinnen, gigantische Rinder-Scheiterhaufen. Wirklich de-real dann das Danach: Zu verstehen und die Logik vor Augen zu haben, wie „Fleisch produzieren“ geht und deshalb aufzuhören Tiere zu essen, aber der Normalität gehäckselter rosa Tierhaufen als günstiges „Angebot“ nicht mal in Zeitungsbeilagen entkommen zu können.

Auch damals schon: Sprachlosigkeit. Weil es unmöglich ist, sich ernsthaft zu erklären, weil das bedeuten würde, Familie, Freund*innen, Fremde immer wieder beim Essen mit dem unerträglichen Grauen und Leid und auch ihrer Mittäter*inschaft zu konfrontieren. Und ungewollt steht da immer was mit Moral im Raum: „ich gut, du schlecht“. Auch in eigener Sache ist es unerträglich, sich bei jeder Frikadelle und jeder Scheibe Wurst auf anderer Menschen Teller selbst wieder bewusst zu machen, für welche Geschichte dieses Essen wirklich steht, angefangen beim gequälten Tier im verdreckten Stall und den Arbeitsbedingungen im Schlachthof bis hin zu all den Markt- und Lobby-Verstrickungen.

Das war Derealisation und Sprachlosigkeit Anfang der 1990er. Status: etwas mehr als 350 ppm – 350 CO2-Moleküle pro eine Million Moleküle in der Atmosphäre ist ein sicherer Wert. Es wäre so vieles noch möglich gewesen.

Ist das etwa ein Appell, vegan zu werden? Nein, oder? Oder doch? Was hat das mit dem Thema zu tun?

Derealisation Mai 2024, 426 ppm3, weiter steigend, ein Desaster. Zusehen, wie die 1,5 Grad erreicht sind, wie die world as we know it von der Weiche springt, während das „Standard-Essen“ in der Schulmensa, im Altenheim, im Krankenhaus immer noch das Essen mit Fleisch ist; während Rodungen, Flächenverbrauch, Artensterben, Treibhausgase, Antibiotikaresistenzen, Wasserverbrauch, Grundwasserprobleme4 wegen einer ungesunden Ernährungsform massiv dazu beitragen, planetare Grenzen5 zu überschreiten. Und während ein Mensch am Tisch spöttisch fragt: „Und macht das jetzt irgendeinen Unterschied, ob du das hier isst oder nicht?“

Es wäre so unglaublich einfach gewesen, diesen Anteil an der Katastrophe – nicht-pflanzliche Ernährung – zu transformieren. Anders als bei Energie, Verkehr oder Industrie hätte es keine neue Infrastruktur gebraucht. Wir hätten einfach aufhören können.

Müsste hierdenn nicht irgendwo auch stehen, dass sich total viel schon verbessert hat? Wie viel tolle vegane Döner es mittlerweile gibt? Ja? Nein?

Worum geht es denn jetzt eigentlich? Um Fleisch!? Oder um die Klimaziele? Um die Ideen vermummter Aktivist*innen in Baumhäusern, um die gerodeten Bäume, um das Naherholungsgebiet, um zu viel Verkehr?

Es geht um alles. Um das Unvereinbare, das Unsagbare. Menschen tauschen Worte aus, ohne zu verstehen, dass diese Worte Bedeutungen haben, die zu unterschiedlichen Universen gehören. Schon eine „Bratwurst“ – für den einen nur lecker, für die andere ein Schmerz auf unendlich vielen Ebenen.

Worum es jetzt geht, ist so groß, so unerträglich, dass ich immer wiede stille Momente und auch die Fakten vor mir brauche, um wirklich bei dem anzukommen, was ich weiß. Welcher Satz kann das transportieren? Das Unausweichliche, die Schuld denen gegenüber, die durch Hitze sterben, auf der Flucht ertrinken, verhungern, flüchten, Todesangst haben. Die Wut denen genüber, die bis zuletzt ihre Geschäfte machen.6 Die Trauer um alles, was mal lebendig und was gewesen sein wird.

Sie fühle sich „hopeless and broken“, hat Ruth Cerezo-Mota aus Mexiko gesagt, der Guardian hat sie am 8. Mai in einer langen Geschichte zitiert, sie ist eine von 380 befragten Top-Klimawissenschaftler*innen aus aller Welt.7

Danebenstehen und das Klima erforschen, ein Leben lang; modellieren, wie die world as we know it von der Weiche springt, in jedem IPCC Bericht Tausende Seiten Analyse, Lösungen, Appelle schreiben, dazu ein Summary for Policymakers8, das Policymakers nicht lesen. Policymakers planen stattdessen neue LNG Terminals, sichern sich dafür in der Welt Fracking Gas, das in Deutschland verboten ist, und bauen beheizte Rohöl-Pipelines quer durch Afrika.9 Weil sie nicht rauskommen aus der Zerstörungsmaschine. Hopeless and broken. Derealisiert.

Hoffnungslos. Das Klima, das Wetter, das Leben auf der Erde wird bis auf weiteres jedes Jahr noch schlimmer werden, mindestens so lange, bis keine weiteren Treibhausgase mehr in die Atmosphäre gehen.10 Also frühestens wenn keine – also keine – fossile Verbrennung mehr stattfindet und zusätzlich etwa Moore vernässt und sehr viel weniger Tiere gegessen werden11, könnte es auf dem dann erreichten Niveau von „katastrophal“ bleiben – sofern bis dahin noch nichts gekippt ist. Also womöglich in einigen Jahrzehnten. Ist das realistisch?

Weidel (AfD) kämpft für Schnitzel, Merz (CDU) kämpft für deutsche Verbrenner, Lindner und Wissing (FDP) kämpfen für das Recht auf Gasheizung und tempolimitfreie Fahrt auf neuen Autobahnen. Gemeinsam kämpfen sie angeblich für das Recht des kleinen (deutschen) Mannes, dass alles so bleibt wie immer. Vereint im neokolonialen Anti-Klimaschutz-Anti-Zukunft-Märchenerzählen-Populismus.

Und in Niedersachsen kämpft Verkehrsminister Olaf Lies (SPD) nach dem Süd- jetzt auch am Westschnellweg weiter für die Tradition, Straßen für mehr Verkehr breiter zu planen. Der Verkehr, findet er, ist nun mal da. Er glaubt, dass die Klimaziele (Niedersachsen klimaneutral ab 2040) allein mit E-Mobilität erreicht werden können. Was sind schon Fakten. 12

Der populistische Weg ist verlockend, auch bei der Schuldfrage. Wenn alles – siehe oben – immer schlimmer wird, liegt es dann eben an Migrant*innen und sogenannten Bügergeldschmarotzer*innen und dem ganzen linksgrünwoken Protest-Siff, die alle zusammen abgeschoben, gemaßregelt und kriminalisiert werden müssen. Damit alles so weitergehen kann mit Lobby-Verstrickungen, Superreichen und einem alles verschlingenden Kapitalismus, der unverdrossen mit Wachstums-Rufen angefeuert wird.

Ich stehe da und verstehe, dass die 1,5 Grad durch sind; der Juni kommt, aber ich werde nie wieder mit ungetrübter Erwartung auf Sommer, Ferien, laue Abende, Tage am See blicken. Sondern mit Sorge und Unruhe. Bringt er noch mehr Hitze? Mehr Brände? Mehr Fluten? Tausende Tote oder Millionen Tote? Werden die Nächte auch in Hannover viel zu heiß? Ich sehe, dass Menschen in Indien und Pakistan nie dagewesene Hitze erleiden13, was viele Medien gar nicht mehr auf die Agenda nehmen, weil sich alles in der Aufmerksamkeits-Ökonomie abnutzt: auch immer neue Temperaturrekorde, auch immer mehr Menschen, die tödlichen Bedingungen ausgesetzt sind. Ich sehe Skandale der „Klimaschmutzlobby“, die nicht zum Skandal werden, weil es dafür keinen öffentlichen Raum mehr gibt, weil wir alle vom Algorithmus maßgeschneidert bespielt werden und auch längst keine Kriegs- und Krisen-Kapazitäten mehr haben. Empathie ist aus.

Die Welt wie wir sie kannten ist von der Weiche gesprungen.

Jetzt ist da nur noch eine Welt, die als Lebensort für Menschen stirbt.

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Noch stehen die alten Kulissen. Von Rentenbescheid bis Autobahnbau, von Bärchenwurst bis Wirtschaftswachstum-Wahlslogan, von Karriereplan bis Einkaufszettel.

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Derealisation: Die Betroffenen […] empfinden die Umgebung wie eine Bühne, auf der jedermann spielt.
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So what?

Nur eine Idee: Derealisation für alle. Mehr Mut, inkompatibel mit der Show zu werden, in der weiter die Bilder einer Welt wie wir sie kannten laufen; stattdessen so lange auf die Bühne zu starren, bis die Kulissen flirren und verschwinden. Noch mehr Mut, um die Welt, die stirbt, sehen und aushalten zu können – und Abschied zu nehmen. Mut und Phantasie, um herauszufinden, was jetzt zu tun ist, für jede*n einzelne*n, um das Sterben so gut es geht zu gestalten, solidarisch und gerecht.

Wenn wir viele sind, hören wir auf, inkompatibel und sprachlos in der Welt zu sein. Wenn wir viele sind, könnten wir mit dem Weiter-so der Horror-„Normalität“ brechen und eine eigene Geschichte erzählen, die gehört wird – und sie nicht den Populisten und Faschisten überlassen.

Nein, das ist kein Happy End, Happy End ist jetzt nicht mehr im Angebot.

1ACHTUNG: Die Analogien in diesem Text zitieren aus der verlinkten Beschreibung zur „Derealisation“, beziehen sich aber explizit nicht auf reale Erkrankungen oder medizinische Diagnostik! Bitte holt euch ärztlichen Rat, wenn ihr den Eindruck bekommt, dass ihr von dieser Diagnose im medizinischen Sinne betroffen seid.

2Mit „wir“ fasse ich hier Menschen in Deutschland zusammen, die ausreichend privilegiert sind, um sich als Teil einer durch allgemeine Medien geschaffenen Öffentlichkeit verstehen zu können.

3täglich aktualisierte Werte unter https://www.co2.earth/daily-co2

4https://www.wwf.de/themen-projekte/landwirtschaft/ernaehrung-konsum/fleisch/der-appetit-auf-fleisch-und-seine-folgen/

5https://www.pik-potsdam.de/de/produkte/infothek/planetare-grenzen

6Millionenschwere Klimaschutzprojekte von Mineralölkonzernen in China existieren offenbar nur auf dem Papier:https://www.zdf.de/nachrichten/wirtschaft/unternehmen/shell-rosneft-omv-betrug-verdacht-klimaschutz-100.html

7https://www.theguardian.com/environment/ng-interactive/2024/may/08/hopeless-and-broken-why-the-worlds-top-climate-scientists-are-in-despair

8https://www.ipcc.ch/report/ar6/syr/summary-for-policymakers/

9https://eacop.com/ und Kritik etwa von Amnesty https://www.amnesty.de/informieren/amnesty-journal/uganda-tansania-repression-protest-gegen-pipeline-oel-und-schlaege

10Was passiert, wenn die CO₂-Emissionen aufhören? https://www.sueddeutsche.de/wissen/klimawandel-erderwaermung-co2-netto-null-emissionen-forscher-berechnungen-1.6303583

11Studie zu den Voraussetzungen und Möglichkeiten, in Deutschland bis 2045 klimaneutral zu werden https://ariadneprojekt.de/publikation/energiewende-auf-netto-null-passen-angebot-und-nachfrage-nach-co2-entnahme-aus-der-atmosphaere-zusammen/

12„Die Klimaschutzziele lassen sich bei Weitem nicht allein durch einen Anstieg der Zulassung batterieelektrischer Fahrzeuge erreichen.“ (S. 19) https://www.fgsv-verlag.de/e-klima-2022 und https://fridaysforfuture.de/studie/schluesselergebnisse/

13Extremhitze in Indien – 33 Wahlhelfer sterben an Hitzeschlag, https://www.t-online.de/klima/leben-umwelt/id_100418474/klimawandel-33-wahlhelfer-in-indien-sterben-an-hitzeschlag.html